„Es gibt vier Szenarien“, sagt Vermissten-Experte über den Fall Arian (6) (2024)

Der sechsjährige Arian wird seit mehr als drei Wochen vermisst. Hunderte Einsatzkräfte suchten eine Woche lang intensiv nach dem Jungen. Heute geht die Suche weiter. Ein Experte für Vermisstenfälle erklärt, was passiert sein könnte - und was er im Fall Arian anders gemacht hätte.

Arian hatte nur Socken, ein Langarmshirt und eine Hose an, als er sein Elternhaus verließ. Das war am 22. April. Seitdem fehlt von dem Sechsjährigen aus Bremervörde in Niedersachsen jede Spur.

Eine Woche lang suchten Hunderte Einsatzkräfte und Freiwillige Tag und Nacht an Land, aus der Luft und im Wasser nachArian. Hunde, eine Reiterstaffel, Helikopter, Drohnen, ein Tornado-Flieger und Boote kamen zum Einsatz. Doch der Junge tauchte nicht wieder auf .

Jetzt, rund zwei Wochen später, wagt die Polizei einen neuen Anlauf. Ermittlerteams sollen am Mittwoch gemeinsam mit der Bereitschaftspolizei von Haus zu Haus gehen und die Nachbarn befragen. Auch den nahe gelegenen Fluss Oste wollen die Beamten erneut absuchen.

Wo ist Arian? Experte skizziert vier Szenarien

Der Publizist Peter Jamin, der sich seit mehr als 25 Jahren mit dem Thema „Vermisste Menschen“ beschäftigt und ehrenamtlich Angehörige berät, verfolgt den Fall Arian aufmerksam. „Jetzt kann nur noch Kommissar Zufall helfen“, sagt er zu FOCUS online.

Die Chance, den Sechsjährigen nach mehr als drei Wochen lebend zu finden, hält der Experte, der mehrere Bücher geschrieben hat, für sehr gering. „Wenn Arian noch in der Gegend herumirrt, wird er fast verdurstet oder verhungert sein“, sagt er.

Jamin hatte in den vergangenen Jahrzehnten mit zahlreichen Vermisstenfällen zu tun. Einige Male war er selbst an deren Aufklärung beteiligt. Seiner Einschätzung nach gibt es „vier Szenarien“, was mit Arian passiert sein könnte.

„Erstens: Er irrt durch die Gegend. Zweitens: Es ist etwas bei ihm Zuhause passiert, was ich aber für unwahrscheinlich halte“, sagt er. Schließlich gibt es Aufnahmen aus einer Überwachungskamera, die zeigen, wie der Junge in Richtung eines angrenzenden Waldgebiets läuft.

Arian könnte einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein

Die dritte Option, so erklärt es Jamin, wäre ein Verbrechen. Arian könnte zum Beispiel entführt, eingesperrt oder - im schlimmsten Fall - getötet worden sein. „Die vierte Möglichkeit ist, dass der Sechsjährige einen Unfall hatte, also zum Beispiel ins Wasser gefallen und ertrunken ist.“

Die zuständige Polizei Rotenburg ermittelt derzeit in alle Richtungen. Laut Sprecher Heiner van der Werp gehen die Ermittler davon aus, dass Arian zur Oste gelaufen und dabei an einem Waldstück vorbeigekommen ist. Einen Unfall schließen sie nicht aus, genausowenig wie ein Verbrechen. Auch wenn es für letzteres Szenario aktuell keine konkreten Hinweise gibt.

Vermissten-Experte Jamin lobt die Polizeiarbeit im Fall Arian zwar grundsätzlich. „Was mich aber irritiert hat, ist, dass die Beamten die erste Suchaktion nach einer Woche abgebrochen haben“, sagt er. „Das war meiner Meinung nach zu früh. Damals standen die Chancen noch besser, Arian lebend zu finden.“

Jamin sieht entscheidenden Fehler bei der Suche nach Arian

Jamin hält es außerdem für einen Fehler, dass sich die Polizei bei der Suche nach Arian auf Privatgrundstücken auf die Bewohner verlassen hat. „Die Menschen wurden aufgerufen, nachzusehen, ob er sich in ihren Häusern versteckt hat. Aber für die gewohnte Umgebung wird man oft blind.“

Fachleute sind bei solchen Manövern häufig aufmerksamer und wissen besser, wo sie nachsehen müssen, als Laien. „Gerade, wenn kleine Kinder verschwinden, muss man im Prinzip jeden Kühlschrank, jede Tür öffnen“, sagt er.

Trotzdem hält Jamin die „private“ Suche nicht für sinnlos. Sie muss in seinen Augen nur anders ablaufen. „Ich habe die Menschen in der Gegend schon am 1. Mai, also rund eine Woche nach Arians Verschwinden, dazu aufgefordert, Familienspaziergänge zu machen“, sagt er.

Wie wirkungsvoll es sein kann, wenn normale Bürger - außerhalb ihrer häuslichen Umgebung - nach Vermissten suchen, erklärt Jamin an einem Beispiel. Vor Jahren war er selbst an einem aufwühlenden Fall beteiligt. Eine Frau verschwand, nachdem sie eine Freundin besucht hatte. Sie war mit dem Fahrrad zu ihr gefahren.

Polizei sucht nicht automatisch nach vermissten Erwachsenen

Die Familie wandte sich an die Polizei, die aber nicht sofort nach der Frau suchte. Grundsätzlich gilt: Personen über 18, im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte, dürfen selbst bestimmen, wo sie sich aufhalten. Sie müssen ihre Angehörigen nicht darüber informieren, wenn sie zum Beispiel für ein paar Tage wegfahren.

In vielen Fällen ist es daher nicht verwunderlich, wenn die Polizei vorerst zum Abwarten rät. Eine Fahndung kann nur dann anlaufen, wenn die vermisste Person ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen hat, ihr derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt ist und davon auszugehen ist, dass eine Gefahr für Leib oder Leben besteht.

Jamin fuhr zu den Angehörigen der vermissten Frau. „Die Familie hat einen privaten Suchtrupp zusammengestellt und überall in der Region Flugblätter verteilt“, sagt er. So wurde die Bevölkerung für den „Fall“ sensibilisiert. Und tatsächlich: Tage später fiel einem Pärchen beim Spazieren ein Fahrradgestell am Wegrand auf.

„Die vermisste Frau fanden sie in der Nähe, schwerverletzt. Sie war überfallen worden“, sagt Jamin. „Das zeigt, dass es gut ist, aktiv zu bleiben, auch unabhängig von der Polizei.“

Fall Arian: Die Parallele zum „Wunder von Oldenburg“

So ähnlich war es in seinen Augen übrigens auch beim „Wunder von Oldenburg“, das oft im Zusammenhang mit dem Fall Arian erwähnt wird. Genau wie Arian wurde der kleine Joe 2022 mehrere Tage lang vermisst. Ein Spaziergänger fand den achtjährigen Jungen schließlich, weil er ein Wimmern unter einem Gullydeckel hörte. Joe war beim Spielen in ein Rohr geklettert und hatte in der Kanalisation die Orientierung verloren.

„Auch das ist ein Beleg dafür, wie wichtig die private Suche ist“, sagt Jamin. „Der Passant war sensibilisiert.“

Die Polizei Oldenburg schreibt auf FOCUS-online-Anfrage, dass „bis zum Auffinden immer die Hoffnung bestand, Joe lebend zu finden“. Auch wenn der Fall ungewöhnlich war. „In der Regel können vermisste Kinder und Jugendliche schnell wiedergefunden und in die Obhut ihrer Erziehungsberechtigten übergeben werden“, so die Polizei Oldenburg.

Fall Arian ist ein Ausnahmefall

Das zeigt auch ein Blick auf die Zahlen. 2023 wurden rund 16.500 Kinder bis einschließlich 13 Jahre als vermisst gemeldet. Das geht aus einem Bericht des Bundeskriminalamts (BKA) hervor. Etwa 15.800 Fälle haben sich demnach im Jahresverlauf wieder erledigt. Die Aufklärungsquote liegt - mit Blick auf die vergangenen sechs Jahre - sogar bei 99,8 Prozent.

Zu den wenigen „ungeklärten“ Fällen gehören nicht nur mögliche Opfer schwerster Straftaten oder Verunglückte, sondern auch „Fälle von Kindesentziehung und Fälle sogenannter unbegleiteter Flüchtlingskinder, die aus ihren Unterbringungseinrichtungen abgängig sind“ sowie „Fälle von Dauerausreißern/Streunern“.

Jamin zufolge werden vermisste Kinder oft unweit ihres Zuhauses wiedergefunden. Sie verhalten sich manchmal wie ältere, an Demenz erkrankte Menschen, die weglaufen, sagt er. Auch wenn derartige Suchmanöver immer wieder tragisch ausgehen.

„In Düsseldorf zum Beispiel verschwand eine 78-Jährige aus dem Altenheim. Man hat weiträumig nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Wochen später tauchte ihre Leiche auf - ganz in der Nähe des Altenheims.“

„Ich kenne Familien, da ist die Tochter seit 25 Jahren verschwunden“

Im Fall Arian sinkt die Hoffnung, den Jungen lebend zu finden, mit jedem weiteren Tag, den er vermisst wird. Jamin hat gesehen, was solche Vorfälle mit Familien machen. Sie wissen nicht, was mit dem geliebten Menschen passiert ist, der von der Bildfläche verschwunden ist.

Die Ungewissheit beschreibt Jamin als furchtbare Erfahrung. „Ich kenne Familien, da ist die Tochter seit 25 Jahren verschwunden. Es gibt keine Leiche, keine Beerdigung, keinen Abschluss.“

Der Autor glaubt: Wenn Arian nicht gefunden wird, beginnt für seine Angehörigen eine lebenslange Tortur. „Irgendwann endet die Betreuung durch die Polizei und die vielen Helfer ziehen sich zurück. Dann sitzen Mutter und Vater allein am Küchentisch, allein mit ihrer Ungewissheit. Das ist der Horror.“

Auch deshalb plädiert Jamin dafür, die Versorgung Angehöriger auszubauen und für entsprechende Beratungsstellen zu sorgen. „In Emden gibt es die einzige kommunale Beratungsstelle für Angehörige von Vermissten. Sie arbeitet mit dem Verein 'Vermisst in Niedersachsen' zusammen“, erklärt er.

„So etwas muss es überall in Deutschland geben. Die Angehörigen vermisster Personen werden viel zu oft im Stich gelassen.“

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